Mein “Squirrel-Brain”

ADHS als Selbstständige
Ina Mewes

Heute ist es soweit. Es ist “offiziell”. 

Die Diagnose ist da. Mein Hirn macht nicht das, was es eigentlich tun sollte. Zumindest nach “normalen” Maßstäben.

Und ich sitze hier und heule. 

Aus Verzweiflung? Frust? Angst?

Nein, nichts von dem. Ich heule aus Erleichterung. Weil ich jetzt endlich eine relativ klare Erklärung dafür habe, “was bei mir nicht stimmt”. Weil ich endlich Schwarz auf Weiß die Bestätigung dafür bekomme, was schon eine Weile mehr als offensichtlich war. Und weil ich jetzt das Gefühl habe, auch offen darüber reden zu dürfen.

Das Ding mit den Enttäuschungen

Mein Leben ist geprägt von Enttäuschungen. Jo, der leibliche Papa hat sich, trotz hunderter Liebesbezeugungen, relativ schnell nach der Scheidung meiner Eltern verpieselt. Ich hätte gern Psychologie studiert – aber keine Chance bei dem Numerus Clausus. Über Beziehungskisten als junge Frau reden ganz zu schweigen 😉

Aber darum geht es nicht. Wenn ich über Enttäuschungen spreche, meine ich die, die ich meiner Umwelt angetan habe. Oder die ich zumindest fühle.

Ich war gut in der Schule. Kein 1er-Kind, aber oberer Durchschnitt. Die Zeugnisse der meisten Jahre bescheinigen mir ein “überdurchschnittliches Allgemeinwissen, eine hohe Gabe, das auch einzubringen” … Wenn, ja wenn ich dann bewusst dabei war. Ansonsten gab es immer wieder den Hinweis, dass “meine Ordnung zu wünschen lässt, Arbeitsmittel nicht dabei seien, Ina unkonzentriert und gedankenverloren ist”. 

“Ina hat so viel Potenzial, ruft es aber nicht ab”. Dieser Satz hat mich gefühlt durch die gesamte Schul-, Studien- und Ausbildungszeit begleitet. Meine Eltern legten (zu Recht) viel Wert auf Bildung. Was für ein Gefühl muss das sein, diese Zeilen immer und immer wieder zu lesen? (Auf der anderen Seite – was macht das mit einem Kind, wenn dieser Satz immer und immer wieder fällt und es nicht weiß, was es anders machen kann?) 

Ich bin Mutter einer mittlerweile erwachsenen Tochter. Die ich aus tiefstem Herzen liebe. Für die ich da sein will. Und es doch so oft nicht war. Denn im Struggle: “Du musst arbeiten, Geld verdienen, darfst dir keine Fehler erlauben, musst abliefern” ist sie ganz oft hintenübergefallen. Das Wissen, dass ich für uns beide sorgen darf und muss, hat massiv falsche Impulse gesetzt. Der Job kam immer zuerst. 

Die häufigste Nachricht auf meinem Telefon von engen, lieben Freunden war und ist: “Warum meldest du dich nie?” Ich bin die Katastrophe, wenn es darum geht, Kontakte aufrecht zu erhalten. Das Gute ist, mittlerweile wissen die meisten in mein Umfeld, wie ich ticke. Dass das keine böse Absicht oder Ignoranz ist, sondern einfach nur der verschobene Ina-Fokus.

Wenn die Antwort ganz einfach ist

Ich habe mich oft gefragt: warum kriegen das alle anderen hin, nur ich nicht? Warum habe ich das Gefühl, ständig wie eine Wilde zu strampeln um damit mit etwas Glück vielleicht halbwegs das hinzubekommen, was andere leisten? Warum krieg ich von außen regelmäßig gespiegelt, wie strukturiert und klar mich andere empfinden, wärend innerlich gefühlt das pure Chaos herrscht?

Es gibt einen Grund, und der ist jetzt ganz offiziell. Ich habe AD(H)S. 

Wenn ich höre oder lese, dass diese “Modediagnose” ja jetzt inflationär gebraucht wird, krieg ich Puls. Denn solche Worte kommen von Menschen, die keine Ahnung haben, was diese etwas andere Funktionalität des Hirns mit dir macht. Ich sage bewusst nicht “Behinderung” oder “Krankheit”. Denn dazu wird es nur, wenn es dein Leben tatsächlich massiv einschränkt. Ansonsten ist es einfach eine andere Art, wie die graue Masse da oben im Kopf tickt. Andere Verknüpfungen, andere Wege, wie Informationen bearbeitet, bewertet werden. 

Und es kann auch ne Super-Power sein. As simple as that. 

Aber ja, es macht was mit deinem Leben.

Die Realität

Das Gehirn funktioniert eben anders und da greifen viele “normale” Herangehensweisen nicht.  Keine Ahnung wie viele Schulungen ich zum Thema “Selbstorganisation” gemacht habe, um mein Chaos in den Griff zu bekommen. Geholfen hat keine. Weil sie für “normale Hirne” entwickelt sind. Früher hab ich immer gedacht, ich bin nur zu blöd oder zu … was weiß ich … dass ich es nicht umgesetzt kriege. Bis ich irgendwann eigene Wege gefunden habe.

Viele AD(H)Sler (insbesondere Frauen) haben sich im Laufe der Jahre gute Tool-Sets zusammengestellt, um ihr Leben und den Job irgendwie zu meistern. Ich hab mittlerweile auch nen ganzen Kofferraum voll damit. Und mir wird langsam bewusst, wie wertvoll das ist. Nicht nur für mich – denn ich “funktioniere” ja ganz gut. Sondern auch für andere Betroffene.

Die Chance, eine offizielle Diagnose als Erwachsener zu erhalten, ist relativ gering. Ich habe 3 Jahre intensiv nach einer Praxis gesucht, die das auch für Kassenpatienten anbietet. Irgendwann mach ich mir mal den Spaß und teile ein paar Antworten von offiziellen Stellen, die ich unterwegs bekommen habe. Das ist nicht mehr feierlich.

Das Gute ist: das Bewusstsein, dass es viele Betroffene gibt, die nicht diagnostiziert sind, sich keine wirkliche Hilfe holen können, steigt. Genauso wie das Wissen, dass AD(H)S extrem viele Ausprägungen und Spielarten haben kann. Und das es oft der grundlegende Auslöser für das ist, womit viele auf den ersten Blick zu tun haben: Panik-Attacken, Depressionen, soziale Ängste. Aber auch regelmäßiges Scheitern im Beruf, in Beziehungen, im Leben.

Gerade bei Frauen wird es selten erkannt, da es sich bei uns oft anders zeigt. Da ist das “hyper” eher im Kopf, zeigt sich der fehlende Fokus in hundert angefangenen Ideen, von denen vielleicht eine mal fertig wird. Kommt die fehlende Impulskontrolle eher darin zum Ausdruck, dass wir die drölfzigste Weiterbildung buchen, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Ansonsten hat unsere Sozialisation aber dafür gesorgt, dass wir perfekt im “Covern” sind. Das hilft aber nicht im Innenleben.

Du denkst: “ja das ist doch normal, geht mir doch genauso”? Dann solltest du dich vielleicht mal intensiver mit der Thematik beschäftigen 😉 Abgesehen davon hab ich aber auch mal einen sehr schönen Vergleich dazu gehört. Nur weil du Rückenschmerzen hast und dir morgens schlecht ist, bist du nicht automatisch schwanger. 

Wenn du mehr dazu wissen möchtest, kann ich dir für den Anfang das Buch “Kirmes im Kopf” von Angelina Boerger ans Herz legen. Wenn du betroffen bist, wirst du dich auf den meisten Seiten wiederfinden. Für Außenstehende ist es die perfekte Lektüre, um vielleicht ein bisschen zu verstehen, wovon wir wirklich reden.

Warum schreibe ich darüber?

Warum mach ich mich vor dir “nackich?”

Weil für mich das Thema psychische Gesundheit ein Herzensthema ist. Ich habe Menschen in meinem engsten Umfeld an Depressionen verloren, bin selbst vor Jahren millimeterweit an einem Burnout vorbeigeschlittert (ok, das Einzige, was gefehlt hat, war der Klinikaufenthalt), hab immer mal wieder mit Panikattacken zu tun. Wenn ich eines gelernt habe, dann: dass Offenheit und Ehrlichkeit helfen. 

Nicht nur einem selbst, sondern vor allem auch anderen. Denn wer gibt schon gern zu, nicht perfekt zu sein, mit irgendwelchen Problemen zu kämpfen. Wenn man aber merkt, dass man nicht allein ist, vielleicht von anderen lernen kann, besser mit den eigenen Herausforderungen umzugehen, dann ist das schon die halbe Miete.

Deshalb habe ich mir auch vorgenommen, meinen Fokus im Business etwas zu ändern. Es wird weiter um Content-Erstellung gehen, um gute Texte und Co. Aber mit einem klareren Schwerpunkt auf Unternehmerinnen und Unternehmer, die ebenfalls mit diesem Kopf-Fasching zu tun haben, bei denen das Eichhörnchen-Gehirn jeder blöden Nuss hinterher springt. 

Denn wir sind viele. Während allgemein ca. 4 – 5% der Bevölkerung von AD(H)S im Erwachsenenalter betroffen sind, liegt die Quote unter Selbstständigen bei 20%. Und für die funktionieren die klassischen Strategien nur bedingt. Die brauchen eine andere Form der Unterstützung. Andere Herangehensweisen.

Mein Werkzeugkasten hat sich in diesem Bereich über die Jahre gut gefüllt und den werde ich in Zukunft teilen. In der Hoffnung, so ein paar anderen helfen zu können und ihnen die eine oder andere falsche Abfahrt zu ersparen.

Ina is on a mission. Und das fühlt sich verdammt gut an.

10 Antworten

  1. Wow, Ina! Das ist ja eine Erzählung!
    Ich kann dir bur dazu gratulieren, dass du mit anderen Betroffenen arbeiten wirst.
    Ich weiß, wie alleingelassen sich viele Betroffenen damit fühlen.
    Es herrscht immer noch viel Unverständnis.
    Auch ich habe da vielleicht mehr Fragen als Antworten.

    1. Dieses Gefühl des Alleingelassen-seins ist tatsächlich groß. Und auch die Missverständnisse, die verbreitet sind. Da werde ich in Zukunft sicher noch so einiges zu schreiben, um aufzuklären und mehr Verständnis zu schaffen. Und deine Fragen beantworte ich sehr gerne, einfach schicken 🙂

  2. Liebe Ina, danke fürs Teilen. Je mehr Leute offen über ihre Gedanken und Gefühle sprechen, desto weniger tabuisiert ist das Thema. Mich hat allerdings immer dieser Begriff ADHS abgeschreckt, weil es so ein Stempel ist, den man oft schon Kindern aufdrückt, und den sie dann, wenn das Umfeld ein falsches Verständnis hat, wie einen Makel mit sich herumtragen. Mir gefiel besonders gut, wie die wunderbare Dr. Nadine Webering das Thema aus ayurvedischer Sicht in ihrem Podcast erklärt hat. Vielleicht magst Du dort einmal reinhören https://podcasts.apple.com/de/podcast/stay-in-balance/id1493352760?i=1000610650341

    1. Das mit dem “Stempel” ist tatsächlich noch ein Problem. Umso wichtiger finde ich, dass wir das Thema ins Rampenlicht holen, um zu zeigen, dass es eigentlich auch ganz normal ist und auch Vorteile mit sich bringt, eben kein Makel ist, sondern nur ne andere Spielart der Natur.

  3. Liebe Ina,
    willkommen in Club 🙂 … ich hab es auch. Hab beschlossen, ich bleibe bei meinem Tool-Kasten. Vor einem halben Jahr hat sich meine Tochter testen lassen – sie hat es definitiv nicht. Wurde aber durch TikTok sensibilisiert. Ich hab mich solidarisch mit testen lassen, weil ich insgeheim dachte: Diese ganzen Beschreibungen … das bin ich.
    Ich versuche nach wie vor die drei Kids (davon bald zwei erwachsen), Haushalt und die Arbeiterei unter einen Hut zu bringen … gelingt mal besser, mal weniger gut. Aber jetzt weiß ich endlich, warum. Und bin relaxter, wenn ich mal wieder tausend Ideen spinne und Monate und Jahre brauche, sie umzusetzen. Oder in der Schublade lasse, weil – oh, eine neue Idee und eine tolle Weiterbildung warten ja auch schon wieder 😉

    Schön, dass du es teilst und ich bin gespannt, welche Hacks du so anwendest 🙂

    Liebe Grüße
    Cordula

  4. Guten Morgen meine Liebe,

    wie immer sehr offen…
    Das Schreiben hast Du mittlerweile echt drauf, besonders, wenn es Dir wie hier eine Herzensangelegenheit ist.

    “Ich bin die Katastrophe, wenn es darum geht, Kontakte aufrecht zu erhalten”.

    In dem Zusammenhang, was mich betrifft: Keine Sorge, ich bin eine recht treue Seele…

    Schöne Sommergrüße aus dem Rheinland

    Dirk

  5. Liebe Ina, du bist ein wunderbarer Mensch, alleine dass du das alles hier so offen und ehrlich schreibst. Ich freue mich dass du deine Mission gefunden hast. Mich betrifft es nicht, aber ich bin sofort sensibilisiert worden, für Mitmenschen, die mir manchmal solche Verhaltensweisen Zeigen. Vielen Dank für diesen Beitrag!

  6. Liebe Ina,
    Ich bin total begeistert von deiner offenen und ehrlichen Art.

    Mit deiner neuen Perspektive auf dein Business wirst du unglaublich vielen Frauen helfen können.

    Ich wünsche dir alles Gute auf deinem Weg nach oben!

    Henriette

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Ich bin Ina.

Werbetexterin, Content-Coach und Squirrel-Brain.

Ich unterstütze vielbeschäftigte Online-Unternehmerinnen dabei, mit guten Inhalten in die Sichtbarkeit zu kommen und. zu verkaufen. Ohne Content-Hustle und Überforderung.

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