Was erfährst du in diesem Beitrag?
Heute ist es soweit. Es ist âoffiziellâ.Â
Die Diagnose ist da. Mein Hirn macht nicht das, was es eigentlich tun sollte. Zumindest nach ânormalenâ MaĂstĂ€ben.
Und ich sitze hier und heule.Â
Aus Verzweiflung? Frust? Angst?
Nein, nichts von dem. Ich heule aus Erleichterung. Weil ich jetzt endlich eine relativ klare ErklĂ€rung dafĂŒr habe, âwas bei mir nicht stimmtâ. Weil ich endlich Schwarz auf WeiĂ die BestĂ€tigung dafĂŒr bekomme, was schon eine Weile mehr als offensichtlich war. Und weil ich jetzt das GefĂŒhl habe, auch offen darĂŒber reden zu dĂŒrfen.
Das Ding mit den EnttÀuschungen
Mein Leben ist geprĂ€gt von EnttĂ€uschungen. Jo, der leibliche Papa hat sich, trotz hunderter Liebesbezeugungen, relativ schnell nach der Scheidung meiner Eltern verpieselt. Ich hĂ€tte gern Psychologie studiert â aber keine Chance bei dem Numerus Clausus. Ăber Beziehungskisten als junge Frau reden ganz zu schweigen đ
Aber darum geht es nicht. Wenn ich ĂŒber EnttĂ€uschungen spreche, meine ich die, die ich meiner Umwelt angetan habe. Oder die ich zumindest fĂŒhle.
Ich war gut in der Schule. Kein 1er-Kind, aber oberer Durchschnitt. Die Zeugnisse der meisten Jahre bescheinigen mir ein âĂŒberdurchschnittliches Allgemeinwissen, eine hohe Gabe, das auch einzubringenâ ⊠Wenn, ja wenn ich dann bewusst dabei war. Ansonsten gab es immer wieder den Hinweis, dass âmeine Ordnung zu wĂŒnschen lĂ€sst, Arbeitsmittel nicht dabei seien, Ina unkonzentriert und gedankenverloren istâ.Â
âIna hat so viel Potenzial, ruft es aber nicht abâ. Dieser Satz hat mich gefĂŒhlt durch die gesamte Schul-, Studien- und Ausbildungszeit begleitet. Meine Eltern legten (zu Recht) viel Wert auf Bildung. Was fĂŒr ein GefĂŒhl muss das sein, diese Zeilen immer und immer wieder zu lesen? (Auf der anderen Seite – was macht das mit einem Kind, wenn dieser Satz immer und immer wieder fĂ€llt und es nicht weiĂ, was es anders machen kann?)Â
Ich bin Mutter einer mittlerweile erwachsenen Tochter. Die ich aus tiefstem Herzen liebe. FĂŒr die ich da sein will. Und es doch so oft nicht war. Denn im Struggle: âDu musst arbeiten, Geld verdienen, darfst dir keine Fehler erlauben, musst abliefernâ ist sie ganz oft hintenĂŒbergefallen. Das Wissen, dass ich fĂŒr uns beide sorgen darf und muss, hat massiv falsche Impulse gesetzt. Der Job kam immer zuerst.Â
Die hĂ€ufigste Nachricht auf meinem Telefon von engen, lieben Freunden war und ist: âWarum meldest du dich nie?â Ich bin die Katastrophe, wenn es darum geht, Kontakte aufrecht zu erhalten. Das Gute ist, mittlerweile wissen die meisten in mein Umfeld, wie ich ticke. Dass das keine böse Absicht oder Ignoranz ist, sondern einfach nur der verschobene Ina-Fokus.
Wenn die Antwort ganz einfach ist
Ich habe mich oft gefragt: warum kriegen das alle anderen hin, nur ich nicht? Warum habe ich das GefĂŒhl, stĂ€ndig wie eine Wilde zu strampeln um damit mit etwas GlĂŒck vielleicht halbwegs das hinzubekommen, was andere leisten? Warum krieg ich von auĂen regelmĂ€Ăig gespiegelt, wie strukturiert und klar mich andere empfinden, wĂ€rend innerlich gefĂŒhlt das pure Chaos herrscht?
Es gibt einen Grund, und der ist jetzt ganz offiziell. Ich habe AD(H)S.Â
Wenn ich höre oder lese, dass diese âModediagnoseâ ja jetzt inflationĂ€r gebraucht wird, krieg ich Puls. Denn solche Worte kommen von Menschen, die keine Ahnung haben, was diese etwas andere FunktionalitĂ€t des Hirns mit dir macht. Ich sage bewusst nicht âBehinderungâ oder âKrankheitâ. Denn dazu wird es nur, wenn es dein Leben tatsĂ€chlich massiv einschrĂ€nkt. Ansonsten ist es einfach eine andere Art, wie die graue Masse da oben im Kopf tickt. Andere VerknĂŒpfungen, andere Wege, wie Informationen bearbeitet, bewertet werden.Â
Und es kann auch ne Super-Power sein. As simple as that.Â
Aber ja, es macht was mit deinem Leben.
Die RealitÀt
Das Gehirn funktioniert eben anders und da greifen viele ânormaleâ Herangehensweisen nicht. Keine Ahnung wie viele Schulungen ich zum Thema “Selbstorganisation” gemacht habe, um mein Chaos in den Griff zu bekommen. Geholfen hat keine. Weil sie fĂŒr “normale Hirne” entwickelt sind. FrĂŒher hab ich immer gedacht, ich bin nur zu blöd oder zu … was weiĂ ich … dass ich es nicht umgesetzt kriege. Bis ich irgendwann eigene Wege gefunden habe.
Viele AD(H)Sler (insbesondere Frauen) haben sich im Laufe der Jahre gute Tool-Sets zusammengestellt, um ihr Leben und den Job irgendwie zu meistern. Ich hab mittlerweile auch nen ganzen Kofferraum voll damit. Und mir wird langsam bewusst, wie wertvoll das ist. Nicht nur fĂŒr mich – denn ich âfunktioniereâ ja ganz gut. Sondern auch fĂŒr andere Betroffene.
Die Chance, eine offizielle Diagnose als Erwachsener zu erhalten, ist relativ gering. Ich habe 3 Jahre intensiv nach einer Praxis gesucht, die das auch fĂŒr Kassenpatienten anbietet. Irgendwann mach ich mir mal den SpaĂ und teile ein paar Antworten von offiziellen Stellen, die ich unterwegs bekommen habe. Das ist nicht mehr feierlich.
Das Gute ist: das Bewusstsein, dass es viele Betroffene gibt, die nicht diagnostiziert sind, sich keine wirkliche Hilfe holen können, steigt. Genauso wie das Wissen, dass AD(H)S extrem viele AusprĂ€gungen und Spielarten haben kann. Und das es oft der grundlegende Auslöser fĂŒr das ist, womit viele auf den ersten Blick zu tun haben: Panik-Attacken, Depressionen, soziale Ăngste. Aber auch regelmĂ€Ăiges Scheitern im Beruf, in Beziehungen, im Leben.
Gerade bei Frauen wird es selten erkannt, da es sich bei uns oft anders zeigt. Da ist das âhyperâ eher im Kopf, zeigt sich der fehlende Fokus in hundert angefangenen Ideen, von denen vielleicht eine mal fertig wird. Kommt die fehlende Impulskontrolle eher darin zum Ausdruck, dass wir die drölfzigste Weiterbildung buchen, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Ansonsten hat unsere Sozialisation aber dafĂŒr gesorgt, dass wir perfekt im “Covern” sind. Das hilft aber nicht im Innenleben.
Du denkst: âja das ist doch normal, geht mir doch genausoâ? Dann solltest du dich vielleicht mal intensiver mit der Thematik beschĂ€ftigen đ Abgesehen davon hab ich aber auch mal einen sehr schönen Vergleich dazu gehört. Nur weil du RĂŒckenschmerzen hast und dir morgens schlecht ist, bist du nicht automatisch schwanger.Â
Wenn du mehr dazu wissen möchtest, kann ich dir fĂŒr den Anfang das Buch “Kirmes im Kopf” von Angelina Boerger ans Herz legen. Wenn du betroffen bist, wirst du dich auf den meisten Seiten wiederfinden. FĂŒr AuĂenstehende ist es die perfekte LektĂŒre, um vielleicht ein bisschen zu verstehen, wovon wir wirklich reden.
Warum schreibe ich darĂŒber?
Warum mach ich mich vor dir ânackich?â
Weil fĂŒr mich das Thema psychische Gesundheit ein Herzensthema ist. Ich habe Menschen in meinem engsten Umfeld an Depressionen verloren, bin selbst vor Jahren millimeterweit an einem Burnout vorbeigeschlittert (ok, das Einzige, was gefehlt hat, war der Klinikaufenthalt), hab immer mal wieder mit Panikattacken zu tun. Wenn ich eines gelernt habe, dann: dass Offenheit und Ehrlichkeit helfen.
Nicht nur einem selbst, sondern vor allem auch anderen. Denn wer gibt schon gern zu, nicht perfekt zu sein, mit irgendwelchen Problemen zu kÀmpfen. Wenn man aber merkt, dass man nicht allein ist, vielleicht von anderen lernen kann, besser mit den eigenen Herausforderungen umzugehen, dann ist das schon die halbe Miete.
Deshalb habe ich mir auch vorgenommen, meinen Fokus im Business etwas zu Àndern. Es wird weiter um Content-Erstellung gehen, um gute Texte und Co. Aber mit einem klareren Schwerpunkt auf Unternehmerinnen und Unternehmer, die ebenfalls mit diesem Kopf-Fasching zu tun haben, bei denen das Eichhörnchen-Gehirn jeder blöden Nuss hinterher springt.
Denn wir sind viele. WĂ€hrend allgemein ca. 4 – 5% der Bevölkerung von AD(H)S im Erwachsenenalter betroffen sind, liegt die Quote unter SelbststĂ€ndigen bei 20%. Und fĂŒr die funktionieren die klassischen Strategien nur bedingt. Die brauchen eine andere Form der UnterstĂŒtzung. Andere Herangehensweisen.
Mein Werkzeugkasten hat sich in diesem Bereich ĂŒber die Jahre gut gefĂŒllt und den werde ich in Zukunft teilen. In der Hoffnung, so ein paar anderen helfen zu können und ihnen die eine oder andere falsche Abfahrt zu ersparen.
10 Antworten
Wow, Ina! Das ist ja eine ErzÀhlung!
Ich kann dir bur dazu gratulieren, dass du mit anderen Betroffenen arbeiten wirst.
Ich weiĂ, wie alleingelassen sich viele Betroffenen damit fĂŒhlen.
Es herrscht immer noch viel UnverstÀndnis.
Auch ich habe da vielleicht mehr Fragen als Antworten.
Dieses GefĂŒhl des Alleingelassen-seins ist tatsĂ€chlich groĂ. Und auch die MissverstĂ€ndnisse, die verbreitet sind. Da werde ich in Zukunft sicher noch so einiges zu schreiben, um aufzuklĂ€ren und mehr VerstĂ€ndnis zu schaffen. Und deine Fragen beantworte ich sehr gerne, einfach schicken đ
Liebe Ina, danke fĂŒrs Teilen. Je mehr Leute offen ĂŒber ihre Gedanken und GefĂŒhle sprechen, desto weniger tabuisiert ist das Thema. Mich hat allerdings immer dieser Begriff ADHS abgeschreckt, weil es so ein Stempel ist, den man oft schon Kindern aufdrĂŒckt, und den sie dann, wenn das Umfeld ein falsches VerstĂ€ndnis hat, wie einen Makel mit sich herumtragen. Mir gefiel besonders gut, wie die wunderbare Dr. Nadine Webering das Thema aus ayurvedischer Sicht in ihrem Podcast erklĂ€rt hat. Vielleicht magst Du dort einmal reinhören https://podcasts.apple.com/de/podcast/stay-in-balance/id1493352760?i=1000610650341
Das mit dem “Stempel” ist tatsĂ€chlich noch ein Problem. Umso wichtiger finde ich, dass wir das Thema ins Rampenlicht holen, um zu zeigen, dass es eigentlich auch ganz normal ist und auch Vorteile mit sich bringt, eben kein Makel ist, sondern nur ne andere Spielart der Natur.
Liebe Ina,
willkommen in Club đ … ich hab es auch. Hab beschlossen, ich bleibe bei meinem Tool-Kasten. Vor einem halben Jahr hat sich meine Tochter testen lassen – sie hat es definitiv nicht. Wurde aber durch TikTok sensibilisiert. Ich hab mich solidarisch mit testen lassen, weil ich insgeheim dachte: Diese ganzen Beschreibungen … das bin ich.
Ich versuche nach wie vor die drei Kids (davon bald zwei erwachsen), Haushalt und die Arbeiterei unter einen Hut zu bringen … gelingt mal besser, mal weniger gut. Aber jetzt weiĂ ich endlich, warum. Und bin relaxter, wenn ich mal wieder tausend Ideen spinne und Monate und Jahre brauche, sie umzusetzen. Oder in der Schublade lasse, weil – oh, eine neue Idee und eine tolle Weiterbildung warten ja auch schon wieder đ
Schön, dass du es teilst und ich bin gespannt, welche Hacks du so anwendest đ
Liebe GrĂŒĂe
Cordula
Guten Morgen meine Liebe,
wie immer sehr offen…
Das Schreiben hast Du mittlerweile echt drauf, besonders, wenn es Dir wie hier eine Herzensangelegenheit ist.
“Ich bin die Katastrophe, wenn es darum geht, Kontakte aufrecht zu erhalten”.
In dem Zusammenhang, was mich betrifft: Keine Sorge, ich bin eine recht treue Seele…
Schöne SommergrĂŒĂe aus dem Rheinland
Dirk
Liebe Ina, du bist ein wunderbarer Mensch, alleine dass du das alles hier so offen und ehrlich schreibst. Ich freue mich dass du deine Mission gefunden hast. Mich betrifft es nicht, aber ich bin sofort sensibilisiert worden, fĂŒr Mitmenschen, die mir manchmal solche Verhaltensweisen Zeigen. Vielen Dank fĂŒr diesen Beitrag!
Danke đ Und es ist schon viel Wert, wenn da ein bisschen Bewusstsein geschaffen wurde đ
Liebe Ina,
Ich bin total begeistert von deiner offenen und ehrlichen Art.
Mit deiner neuen Perspektive auf dein Business wirst du unglaublich vielen Frauen helfen können.
Ich wĂŒnsche dir alles Gute auf deinem Weg nach oben!
Henriette
Danke fĂŒr deine lieben Worte. Und … das hoffe ich, dass ich tatsĂ€chlich andere unterstĂŒtzen kann đ